Dienstag, 27. April 2010

Paloma-Geschichten

Mal wieder ein paar Geschichten aus dem paloma'schen Alltag:
(Namen wie immer alle geändert)

Letzten Donnerstag ist ein 8-jähriger Junge aus mener Gruppe, der sonst eigentlich immer zu La Paloma kommt, nicht erschienen. Als ich seine große Schwester gefragt habe, wo denn ihr Bruder stecken würde, antwortete sie mir, er wäre mit seiner Mutter bei einer "Piquete". Da ich das Wort nicht kannte, fragte ich bei meinem Kollegen nach, der mir folgendes erklärte:
In den Barrios, in denen die Kinder wohnen, gibt es vielerlei politische und gesellschaftliche Organisationen, die zu klein, zu radikal und zu unprofessionell sind, um als offizielle Partei / Verein / Club / Gesellschaft eingetragen zu werden. Da sie ihrem politischen Protest aber dennoch irgendwie ausdruck verleihen wollen, rufen sie regelmäßig zur Piquete auf. Bei dieser Piquete versammeln sich dann die Leute der Organisation und sperren beispielsweise eine Straße ab, stecken Autos in Brand oder besetzen öffentliche Gebäude. Um dem Protest mehr Ausdruck zu verleihen, rufen sie im Barrio zur Unterstützung auf, allerdings mit der Ansage, wenn eine Familie zur Piquete kommt und den Aufstand unterstützt, kriegen sie dafür Geld - und je mehr Leute sie mitbringt, desto mehr Geld gibts. Tja, auch das ist für die meist armen Familien aus den Barrios eine Möglichkeit Geld zu verdienen. Nur blöd, dass die kleinen Kinder da schon mit hin müssen und folglich an dem Tag mal wieder die Schule verpassen. Des Weiteren wurde mir erzählt, dass die Organisationen für Jugendliche ab 14/15 Jahren eine andere Bezahlung für die Teilnahme an der Piquete anbieten: Wer kommt und auch ordentlich Krawall macht bekommt hinterher 50 Peso und eine Tüte Kokain. So viel zum Thema "politische Freiheit" in Argentinien - man muss sich seine Anhänger mit Geld und Drogen erkaufen...

Ein weiteres Beispiel zum Leben in den Barrios:
Vergangenen Freitag habe ich mich eine Stunde von den Kindern abgesetzt, um eine Aktivität vorzubereiten. Ich hatte Fotos von den Kindern entwickeln lassen und wollte diese mit ihnen schön bebasteln, um sie dann im Salon aufzuhängen. Da ich es ein bisschen besonders machen wollte, schrieb ich die Namen der Kinder mit Zitronensaft unter die Fotos. Kennt ihr diese Methode der "Zauberschrift"? Wenn man etwas mit Zitronensaft auf das Papier schreibt und dies dann über eine Kerze hält, erscheint das Geschriebene wie von Zauberhand auf dem Papier. Auf jeden Fall schloss ich mich mit den Fotos, einer Kerze und einer Zitrone in einem Raum ein, um die Bastelei in Ruhe vorzubereiten. Außerdem sollten die Kinder ja noch nicht sehen, was wir später machen werden. Dies bekam der 11-jährige Fernando mit. Er wurde neugierig, was ich dort wohl in dem Raum machen würde und hämmerte wie wild an die Tür. Nachdem er mich lange genug genervt hatte, öffnete ich die Tür, um ihm zu sagen, dass er nun bitte verschwinden sollte. Doch kaum war die Tür offen, stüzte Fernando herein. Als er sah, was ich ausgebreitet hatte, fegte er alles mit einem Wisch vom Tisch. Ich dachte ich guck nicht richtig !! In so einem Moment an sich zu halten, Ruhe zu bewahren und das Kind nicht einfach laut zu beschimpfen, ist echt schwierig sag ich euch... Auf jeden Fall bin ich böse geworden und hab Fernando rausgeschmissen, allerdings mit der Ansage, dass wir darüber später noch reden werden. Kurze Zeit später, nachdem ich wieder alles aufgeäumt und den Salon aufgeschlossen hatte, kam er wieder. Er nahm sich Palstikchips aus einem Spielkarton und fing ohne Grund an, mich mit diesen Chips zu bewerfen... Ich weiß zwar, dass der Junge aus einer schwierigen Familie kommt, Drogen konsumiert und eben gerne provoziert und ärgert, um seinem Frust Luft zu machen, aber das wir mir in dem Moment zu viel. Ich rief meine Kollegin zur Hilfe, die das Geschehen an dem Tag miterlebt hatte und Fernando eine ordentliche Standpauke hielt. Muss auch mal sein... Später erfuhr ich jedoch etwas von meiner Kollegin, was mich die ganze Situation besser verstehen lässt:
In den Barrios gibt es neben den politischen Organisationen seit neustem auch religiöse Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften sind zwar an die katholische Kirche angelehnt, haben aber eine weitaus spirituellere Ideologie. Sie laden regelmäßig zu Gottesdiensten und Kulto-Sitzungen ein, bei denen dann in einer etwas ominösen Art und Weise gebetet wird... Eben auch mit Kerzen, Räucherstäbchen, Wodoo und dem ganzen Kram. Ich will diese religiösen Verbände jetzt nicht direkt als Sekten betiteln, aber so ein bisschen fanatistisch, skurril ist die Sache schon. Bei den Zuständen, die im Barrio herrschen (Perspektivlosigkeit, Armut, Gewalt, Drogen, Langeweile...) ist es auch kein Wunder, dass die Menschen sich von solchen religiösen Treffen mitreißen lassen. Dort finden sie Trost, Zusammenhalt und immerhin irgendeine Beschäftigung...
Viele Mütter deren Kinder zu La Paloma kommen, nehmen an solchen Gebetsstunden teil, so auch die Mutter von Fernando. Allerdings merkt Fernando, dass das irgendwie komisch ist und dass seine Mutter sich ein bisschen verändert. Naja, und als er mich an diesem Tag sah, wie ich mich mit einer Kerze und den Fotos in einem Raum einschloss, dachte er im ersten Moment, ich würde da drinnen irgendeinen Hokuspokus veranstalten und die Kinder verfluchen. Nachdem ich und meine Kollegin dieses Missverständnis aus der Welt geschafft hatten, war er auch bereit, sich bei mir zu entschuldigen. Natürlich ist all das keine Entschuldigung dafür, wie respektlos er sich mit gegenüber verhalten hat, aber es macht die ganze Sache etwas leichter nachvollziehbar...

La Paloma selbst liegt am äußeren Rand eines Barrios in San Justo. Ein großes Problem dort sind die vielen freilaufenden Hunde, die keinen Besitzer haben, sich auf der Straße rumtreiben und nicht selten Tollwut haben. Neulich wurde ein 6-jähriger Junge auf dem Weg zu La Paloma von einem Hund in die Schulter gebissen. Da die Kinder hier meistens nicht gegen Taetanus geimpft sind, haben wir sicherheitshalber den Notarzt gerufen, damit die Wunde professionell gereinigt wird. Als wir die Besitzer des Hundes (der besagte Hund war nämlich nicht herrenlos), die im Barrio wohnen, baten, die Kosten für den Notarzt zu übernehmen, meinten sie nur, dass sie dafür kein Geld hätten und warum wir die Kinder überhaupt auch so alleine, mitten auf der Straße herumlaufen lassen würden... Damit war das Thema dann für die Leute erledigt. Noch hat meine Chefin nicht entschieden, ob sie anwaltlich gegen die Leute vorgehen will oder nicht. Insgesamt geht es ihr weniger um die Arztkosten, als darum, dass die beiden Hunde der Leute angeleint werden, da neulich schon mal der Postbote attackiert wurde.

Dann ist noch etwas sehr Hässliches letzte Woche passiert... Dazu vorab folgende Erklärung: Der 9-jährige Rodrigo ist 'n kluges Kerlchen, ist normal entwickelt und macht allgemein keine großen Schwierigkeiten. Er geht morgens von 8 bis 12 in die Schule und verbringt den Nachmittag dann in La Paloma. Seit Beginn dieses Schuljahres muss er zusätzlich seinen Brüdern bei der Arbeit helfen, um Geld für die Familie zu verdienen. Daher zieht er um 17 Uhr, wenn La Paloma zu ende ist, noch bis 21 Uhr mit dem Karren los und sammelt Papier, Pappe und sonstige wieder verwertbare Dinge. Darin besteht übrigens die einzige Arbeit vieler armer Leute: Sie ziehen abends mit ihrem „Carro“ durch die Straßen und suchen im Abfall, den die Leute auf die Straße gestellt haben, nach nützlichen Dingen, die sie dann an extra dafür angelegte Sammelstellen verkaufen. Wenn Rodrigo und seine Brüder abends nicht genug Geld nach Hause bringen, kriegen sie Ärger von ihrem Vater. Dies war letzte Woche der Fall. Hinzu kam, dass Rodrigo an dem Tag auch noch eine Notiz von seiner Lehrerin in der Schulmappe hatte, dass er in letzter Zeit öfter keine Hausaufgaben gehabt hätte. (Klar, wann soll der Junge denn noch Hausaufgaben machen, wenn er 14 Stunden am Tag unterwegs ist und arbeitet ?!) Als der alkoholabhängige Vater davon Wind bekam, schlug er Rodrigo so grün und blau, dass er am nächsten Tag nicht an unserem geplanten Theaterausflug teilnehmen durfte, weil er Wunden im Gesicht und am Rücken hatte und sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Den Rest der Woche ging er weder zur Schule noch zu La Paloma. Mich hat die Geschichte an dem Tag sehr mitgenommen, ich hatte eine unglaubliche Wut auf den Vater! Wie kann man seinem Kind so etwas antun???? Wie kann man sein Kind so misshandeln, ihm so einen besonderen Tag kaputt machen? Wie kann man dem Kind und der ganzen Familie ein solches Trauma bereiten?

Doch es gibt auch schöne, problemfreie Tage in La Paloma, so wie heute zum Beispiel: Heute haben wir Rodrigos 10.Geburtstag nachgefeiert. Er bekam ein Paar neue Adidas-Turnschuhe und eine Trainingsjacke vom TSV Russee (beides Sachen, die Freunde meiner Eltern gespendet hatten). Als er die Sachen während der Merienda im großen Comedor auspackte, rief er "Uhhhhh, re piola!" (also so viel wie: "wie geil!") und zum Glück passten die Sachen auch wie angegossen.
Außerdem war heute ein Mädchen von unseren Jugendlichen mit ihrem 3-monate alten Baby zu Besuch in La Paloma... Während die 17 Jahre junge Mama endlich mal wieder Zeit mit ihren Freunden verbringen konnte, hab ich mich um die Kleine gekümmert. Irgendwann ist sie dann auf meinem Arm eingeschlafen und hat vor sich hingeträumt. Ach Mensch, so Babys haben schon was... so süß und friedlich! Aber keine Angst: Ich kann mir meine Muttergefühle noch für später aufheben ;-)

Das war mal wieder ein kurzer Einblick in das, was ich in La Paloma so erlebe und wie ich daraus lerne.
Des Weiteren habe ich meinen dritten Zwischenbericht online gestellt (siehe rechte Spalte), in dem ich noch mehr über derlei Dinge berichte.
Ich hoffe euch geht's gut. Hasta luego muchachos!

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