Mittwoch, 26. Mai 2010

Bicentenario und Córdoba

Vergangenes Wochenende war es endlich soweit:
Argentinien wurde 200 Jahre alt!
Anlässlich dieses hohen Geburtstages haben die Argentinier einfach mal zwei ganze Werktage, nämlich Montag und Dienstag zu Feiertagen erklärt. Während dieses langen Wochenendes befand sich die Stadt natürlich im Ausnahmezustand. Die 9 de Julio, eine der Hauptverkehrsstraßen im Zentrum, war für komplette vier Tage gesperrt und in eine riesige Volksfest-Meile verwandelt. Überall waren riesige Bühnen aufgebaut, es gab Festumzüge, Militärparaden und allerlei Aktionsstände zu den einzelnen Provinzen des Landes. Insgesamt hat mich die Atmosphäre und das Erscheinungsbild dieses Volksfestes sehr an die Kieler Woche erinnert, nur 'n paar Nummern größer.
Da dieses ganze Thema "Bicentenario" in diesem Jahr natürlich sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hier in Argentinien dominiert, haben wir auch mit den Kindern in La Paloma zu dem Thema gearbeitet. An einem Tag haben die Kinder sich zum Beispiel im Stil des 19.Jahrhunderts verkleidet. Außerdem haben wir spielerisch mit ihnen erarbeitet, wie die Menschen damals in Argentinien wohl gelebt haben, welche Brufe es damals gab, welche Fortbewegungsmittel, welche Bräuche und welche Gerichte. Natürlich wurde auch behandelt, wie sich die Argentinier im Jahr 1810 ihre Unabhängigkeit von den Spaniern erkämpft haben.
Letzten Freitag wurden dann alle Kinder mit ihren Familien nach La Paloma eingeladen, um gemeinsam das Bicentenario zu feiern. Es wurde gegrillt, köstliches Choripan (scharfe, dicke Wurst im Brötchen) gegessen und gespielt. Außerdem haben sich auch die Familien mit Kleidern der Jahrhundertwende verkleidet und Fotos von sich machen lassen. Insgesamt sind diese Tage, an denen wir Familienfeste in La Paloma ausrichten, immer wahnsinnig wuselig, chaotisch und anstrengend, aber trotzdem auch irgendwie schön und vor allen Dingen familiär. Man merkt oft, wie aufgeregt die Kinder sind, dass ihre Mütter und Geschwister mitbringen dürfen, wie sie mit ihren kleinen Geschwistern auf dem Arm ganz stolz durch La Paloma rennen. Und auch für die Mütter sind diese Veranstaltungen absolute Highlights im täglichen, langweiligen Barrioleben, sie genießen es am Rand gemeinsam Mate zu trinken, Fleisch (!) zu essen und mal selbst von dem Programm, das wir organisieren unterhalten zu werden...
Nachdem ich also Freitag mit dem Familienfest in La Paloma beschäftigt gewesen bin und mir am Samstag das Spektakel in der Innenstadt angeschaut habe, hab ich mich für die verbleibenden drei freien Tage mit einem Schwung anderer Voluntärinnen auf nach Córdoba gemacht. Córdoba ist nach Buenos Aires die zweitgrößte Stadt Argentiniens und liegt 10 Stunden Busfahrt entfernt mitten in den Bergen. Dieser 3-tägige Trip raus aus dem Gewusel der Großstadt hat echt Spaß gemacht, außerdem versuche ich jetzt in meiner letzten Zeit jede Gelegenheit zu nutzen, um noch ein bisschen mehr vom Land kennenzulernen. Nachdem wir also am ersten Tag unser Hostel bezogen hatten, machten wir uns auf richtung Stadtzentrum, wo wir zufällig auf Plakate der Ausstellung "Körperwelten" stießen. So eine einmalige Gelegenheit diese weltweit bekannte und diskutierte Ausstellung zu sehen, ließen wir uns natürlich nicht nehmen. Mir hat sie eigentlich ziemlich gut gefallen. Natürlich sind die dort ausgestellten toten Körper jetzt nicht wahnsinnig schön oder ästhetisch, dafür allerdings sehr interessant anzusehen. Man lernt viel über die menschliche Anatomie, Krankeitsbilder, Organschäden usw.
Den zweiten Tag verbrachten wir dann mit einem Ausflug in das etwas außerhalb gelegene Bergdörfchen Alta Gracia, um das dortige Che Guevara-Museum zu besuchen. In dem alten Wohnhaus seiner Familie, wo er den Großteil seiner Kindheit verbrachte, ist eben heute ein Museum, in dem lauter Fotos, Gegenstände und Gemälde zum Leben und Wirken des Revolutionärs ausgestellt werden. Auch diese Ausstellung hat mir wirklich gut gefallen, da man als Besucher einfach nur durch das kleine, idyllische Landhäuschen schlendert, sich die Exponate mehr zufällig ansieht und daher gar nicht unbedingt das Gefühl hat, in einem Museum zu sein. Außerdem wurde dadurch, dass man primär Dinge über die Kindheit und Jugend von ihm informiert wird, das heroische Bild des Revolutionärs und der weltweit herrschende Che Guevara-Kult etwas relativiert, fand ich.
Da zwei Mädels von uns unbedingt die Gelegenheit der für's Reiten bekannten Berglandschaften in der Umgebung von Córdoba nutzen wollten, ließen Lisa und ich, beide eher blutige Anfängerinnen im Umgang mit Pferden, uns am letzten Tag noch dazu breitschlagen, an einem Reitausflug teilzunehmen. Nach einer Stunde hubbeliger Autofahrt durch die Berge endlich am Zielort angekommen, eröffnete unser Guide uns beim Begrüßungs-Mate-trinken, dass die Pferde mit denen er arbeitet, eigentlich alles Wildpferde sind, die frei im Campo rumlaufen, sich völlig selbst versorgen und eigentlich auch niemandem wirklich gehören. Er habe die sie allerdings natürlich schon zugeritten, sodass wir keine Angst zu haben bräuchten. Nachdem ich dann irgendwann meine erste Scheu vor den Tieren überwunden und mich mit dem mir zugeteilten Pferd angefreundet hatte, gelang es mir sogar, den Ausflug zu genießen. Dreieinhalb Stunden sind wir querfeldein durch das Gelände geritten, alles vor der malerischen Kulisse der Anden. Das war wirklich wunderschön! Am Ende bin ich sogar ein paar mal galoppiert (ohne runterzufallen!). Abgerudet wurde der Tag dann noch mit einem leckeren Asado in der letzten warmen Herbstsonne. Danach hatte ich zwar einen Sonnenstich, Muskelkater im Popo und ein viel zu großes Loch in meinem Geldbeutel, war aber auch sehr stolz und zufrieden. Wir waren auch alle so fertig hinterher, dass wir auf der Rückfahrt nachts im Bus so tief schliefen, dass wir am nächsten Morgen beinahe unsere Ankunft am Retiro verpasst hätten, wenn die Busfahrer uns nicht geweckt hätten.
Also, ham wa wieder viele, wertvolle Erfahrungen in den letzten Tagen gesammelt!
Im neuen Fotoalbum gibt's 'ne Menge abenteuerlicher Bilder zu bewundern.
In diesem Sinne: Viva Argentina!
eure Merle

Donnerstag, 20. Mai 2010

un pocito de todo :)

(von allem ein bisschen)

Lang lang ist's her, dass ich gebloggt habe. Daher wird es mal wieder Zeit, von den schönen Seiten meinen argentinischen Lebens hier zu berichten.
Mittlerweile sind meine Tage gezählt, in zwei Monaten sitze ich schon wieder im Flieger richtung Heimat. Daher versuche, die letzten Wochen hier umso intensiver zu erleben und dabei wird mir so langsam bewusst, was ich in Deutschland alles vermissen werde. Angefangen bei ganz alltäglichen Situationen auf der Straße...
Neulich war ich zum Beispiel mit einer Freundin auf der Feria in Mataderos unterwegs, als sich mir auf einmal ein kleiner, korpulenter Herr höheren Alters in den Weg stellte. Da er aus irgendeinem Grund nicht sprechen konnte, kommunizierte er in Zeichensprache. Er zeigte zuerst auf meine Augen, griff sich dann theatralisch ans Herz und täuschte einen Herzinfarkt vor... Danach gab er mir die Hand, drehte sich um und ging wieder. Ich glaube, so ein schönes Kompliment habe ich lange nicht bekommen :)
Eine andere, durchaus typische Situation unseres WG-Lebens ereignete sich vergangenes Wochenende. Als Simon zufällig eine Jeans von Jonas, die über einem Stuhl hing, hoch hob, kullerte aus Jonas' Hosentasche mein seit langem vermisster Labellolippenstift (aus Deutschland! daher so heiß begehrt) hervor... Als ich Jonas dann etwas zerknirscht, fragend anguckte, war sein Kommentar nur: "Dies ist einer der Momente, in denen man am liebsten im Boden versinken würde!"
Da eine meiner Kolleginnen für längere Zeit krank geschrieben ist, betreue ich zur Zeit die Gruppe der "Pekes", der ganz Kleinen, mit. Die Mehrheit der Kinder hat erst vor kurzem in La Paloma angefangen, sodass für sie vieles noch neu und aufregend ist. Für mich ist es super krass zu sehen, wie verschieden die Kinder der Gruppe sind. Alle sind zwischen 4 und 6 Jahren alt, kommen aber natürlich aus unterschiedlichen Familienverhältnissen. So kann zB ein 4-jähriger Junge, der schon seit einem Jahr in den Kindergarten geht und aus einer halbwegs strukturierten Familie kommt problemlos alle Farben und Tiere auseinander halten, während ein anderes Kind selben Alters, das jedoch nie in irgendeiner sozialen Einrichtung gewesen ist, einen Tiger noch als Vogel bezeichnet und auch Schwierigkeiten hat, sich den Unterschied für längere Zeit zu merken. Anhand solcher Situationen merkt man schnell, wo bei den Kindern Lücken sind und woran man mit ihnen arbeiten kann. Das macht Spaß! Außerdem sind die Kleinen einfach auch sehr sehr süß und ich merke, wie schnell sich eine Bindung zu ihnen aufbauen lässt. Klar, der Niedlichkeitsfaktor ist in dem Alter halt ziemlich hoch! Gerade mit einem 4-jährigen Mädchen, nennen wir sie Moni, erlebe ich zur Zeit eine herzzerreißende Situation nach der anderen. Neulich hat sie beispielsweise beim Duschen Schaum in die Augen bekommen und fing natürlich fürchterlich an zu weinen. So stand sie ganz verzweifelt unter dem laufenden Wasser und rieb sich hilflos die Augen, wodurch das Shampoo aber nur noch tiefer ins Auge geriet. Da sie partout nicht mit sich reden ließ, hab ich irgendwann ihren Kopf in den Nacken gelegt und ihr den Schaum vom Gesicht gespült. Nachdem dann endlich alles weg war, traute sie sich aber immer noch nicht die Augen wieder aufzumachen, daher griff sie einfach blind aus der Dusche heraus, ergriff das erste Stück Stoff, dass sie zu fassen bekam und putzte sich ihre vom vielen Weinen schnodderige Nase an meinem Pullover ab. So dankt einem eine 4-jährige also die dramatische Rettung ihres Augenlichts ;-) Doch eigentlich mag ich die tägliche halbe Stunde mit den Kindern im Bad sehr gerne. Das sind immer schöne, zutrauliche Momente voller Handtuch-Kuscheleien, Strumpfhose anziehen und Schleife binden üben.
An einem anderen Tag beobachtete ich, wie die kleine Moni irgendetwas kaute, während sie gerade mit den anderen Kindern Ticker spielte. Als ich sie fragte, was sie denn da im Mund hatte, spuckte sie auf einmal ein Puzzleteil aus. Da holte ich mir die Kleine auf den Schoß und erklärte ihr, dass so etwas nicht geht. Sie wisse doch schließlich, dass man Puzzleteile nicht essen kann und dass man sich nicht einfach Dinge in den Mund steckt. Sie sei ja schließlich kein Baby mehr, außerdem fehle dem Puzzle jetzt ein Teil. Während ich so mit ihr redete, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie konnte mir vor lauter schlechtem Gewissen gar nicht mehr ins Gesicht gucken. Das zerriss mir in dem Moment echt fast das Herz! Ich hab sie dann in den Arm genommen, ihr gesagt, dass ich nicht böse auf sie sei und dass sie nur aufpassen solle, nicht wieder Puzzleteile zu essen. Dann spielten wir noch 'ne Runde "Hoppe hoppe Reiter" (mittlerweile kann Moni sogar den Text auf Deutsch (!) mitsingen) und danach war alles wieder in Ordnung... Oh Gott, ich merke selbst, wie belanglos diese Geschichten im Vergleich zu meinen alten Beiträgen erscheinen, doch solche Dinge prägen nun mal irgendwie meine Zeit hier, was mir gerade in Anbetracht meiner davonlaufenden verbleibenden Wochen immer bewusster wird. Diese Momente in La Paloma möchte ich um nichts in der Welt missen!
Noch in derselben Woche, habe ich eine Kollegin zu Hause besucht. Da sie und ihr Mann gerade ihr erstes Kind erwarten, sind sie zur Zeit fleißig am Zimmer renovieren, was sie mir gerne zeigen wollte. Der Besuch in ihrem Häuschen war irgendwie beeindruckend für mich. Eine ganz süße, kleine Casita auf nur einer Etage mit insgesamt 3 Zimmern. Alles war sehr sauber und liebevoll eingerichtet... echt schön und gemütlich! Auf dem Nachhauseweg verglich ich allerdings die Wohnsituation meiner Kollegin und ihrer Familie, die ich als typische argentinische Mittelschicht bezeichnen würde, mit der Wohnsituation in der ich groß geworden bin... Wir als 4-köpfige "Mittelstandsfamilie" aus Deutschland hatten ein 4-stöckiges Reihenhaus, Garten, Auto, Fahrräder usw... Meine Kollegin hat dagegen dieses Jahr auf ihren Sommerurlaub verzichten müssen, um das vielleicht 10m² große Kinderzimmer renovieren zu können.

So, das war's für's erste. Kommendes Wochenende fahre ich für drei Tage mit ein paar Mädels nach Córdoba, die zweitgrößte Stadt Argentiniens. Danach berichte ich wieder neu.
Liebste Grüße aus dem herbstlichen Buenos Aires,
eure Merle