Freitag, 27. November 2009

"Das Gespenst der (Un-)Sicherheit in Argentinien"

Der folgende Artikel ist vor kurzem in unserem Boletín Voluntariado (einer Art „Newsletter“ für die Freiwilligen der IERP) erschienen. Arturo Blatezky ist Pfarrer der ev. Kirche am Rio de la Plata und arbeitet außerdem für die Menschenrechtsorganisation MEDH, mit der die IERP eng zusammenarbeitet. Ich habe Arturo bereits während unseres Einführungsseminars im Isedet kennengelernt und ihn als sehr beeindruckenden, authentischen Mann erlebt, der unheimlich viel Erfahrung auf dem Gebiet der Menschenrechtsarbeit hat.
Arturo hat nun wie gesagt im letzten Boletín einen Bericht zum Thema „Unsicherheit in Argentinien“ geschrieben, den ich für sehr gut und anschaulich halte, und ihn euch daher nicht vorenthalten möchte.
Vorab sollte man jedoch wissen, dass die gesellschaftliche Situation hier in Argentinien ziemlich verfahren ist. Auf der einen Seite dominiert die große Schere zwischen Arm & Reich das Leben der Menschen, auf der anderen Seite das Problem der immensen Korruption. Die Menschen hier (vor allem die jüngeren Generationen) haben einfach null Vertrauen in Polizei und Justiz, da beide Instanzen nicht gegen das bestehende Unrecht ankämpfen, sondern im Gegenteil, sogar in vielen Fällen Quelle desselbigen sind. Die Fälle, von denen Arturo in seinem Artikel berichtet sind bestes Beispiel für die Zustände hier in Argentinien. Mir blieb der Mund beim Lesen offen stehen, gerade weil ich weiß, dass die Sachen wirklich erst vor kurzem so passiert sind.
Da der Originaltext ziemlich lang ist, habe ich ihn für diesen Post hier gekürzt. Wer aber gerne den vollen Artikel lesen möchte, kann rechts einfach auf den entsprechenden Link klicken.
Wem’s zu viel Text ist, kann ja einfach nach unten scrawlen – dort gibt’s dann wieder friedliche, schöne Worte von mir zu lesen ;)


EIN GESPENST GEHT UM IN ARGENTINIEN - DAS GESPENST DER UNSICHERHEIT...


Macri – De Narvaez & Co.: „Die unpolitischen Unternehmer-Politiker“
[…] ¿Wie sieht die „Schaffung von Sicherheit für die anständigen Bürger“ durch Bürgermeister Macri in der Stadt Buenos Aires aus? Das beste Beispiel ist ohne Zweifel die Schaffung der UCEP-Brigade, der „Einheit für die Kontrolle der Allgemeinen Öffentlichkeit“.
Konkret besteht diese Massnahme darin, dass eine –geheime- Gruppe von zivilen Stadtangestellten eingestellt wurden, die nachts durch die ärmeren und verborgenen Gegenden der Stadt Buenos Aires in Privatwagen patrouilliert um Bettler und Homeless, die zu Hunderten unter den Brücken der Autobahnen, Vordächer o.ä. zu übernachten versuchen, mittels mehr oder weniger eindeutiger, leichterer oder schwerer Gewalt vertreiben. Diese Aktionen der UCEP-Brigade gingen so weit, dass selbst der Oberkommissar der für die Stadt zuständige Staatspolizei sich von ihnen distanzierte und abstritt, etwas damit zu tun zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass das Macri-Dekret besteht und die UCEP in ihrer Handlungsfreiheit sogar ausdrücklich ausgeweitet wurde. Ihr offizielles Büro und Handlungsbasis ist […] im Zentrum von Buenos Aires und ihre Aktionen werden öfters mit LKW´s der privaten Müllversorgung der Stadt begleitet und unterstützt. Ebenso wie von privaten PKW´s in denen jeweils mehrere große, athletisch gebaute Männer mitfahren, die sich alle durch schwarze Uniformen auszeichnen.

Wir begleiten und zeigen diese gewalttätigen Übergriffe von staatlich-angestellten illegalen Schlägerbanden seit einiger Zeit gemeinsam mit der katholischen Gemeinde der Klaretianer von Constitución an, dem wichtigsten Endbahnhof der Züge, die aus Patagonien und dem Süden einlaufen.
Ein guter Freund, Pfarrer Jorge Alonso hat vor Gericht folgendes ausgesagt:
“Es war etwa um 12 Uhr nachts als ich von der Strasse –von unterhalb der Autobahn her- Schreie hörte. Es war ein mir sehr gut bekannter Mann, der seit einiger Zeit neben der Mauer unserer Gemeinde übernachtet und manchmal kommt um Essen, Mate-Tee, Zucker o.ä. zu verlangen. Ich schaute aus dem Fenster und bemerkte etwa 18 bis 20 junge Männer, alle in schwarzer Uniform, die auf den Mann zuredeten. Dann stiegen sie in ihre Autos und fuhren weg. Am nächsten Tag kam der Mann zu mir und erzählte, sie hätten ihn bedroht, er solle machen dass er dort wegkäme. Der (66. jährige) Mann war sehr verängstigt und sprach nur davon, dass sie ihm damit gedroht hatten, nächstes Mal würden sie ihn wegprügeln.
Es ist genauso, wie es unser Kardinal Bergoglio immer wieder sagt: Die Menschen sind für die Regierung dieser Stadt überflüssig, man kann sie behandeln wie Wegwerfmüll. […]


Die wahren Opfer der “Unsicherheit der kapitalistischen Gesellschaft”


Carlitos – 14 Jahre

Wenige Dinge haben mich in meinem Leben so bewegt wie die Beerdigung des 14. jährigen Carlitos.
Carlitos lebte mit seiner Familia wie die anderen 45 bis 50 Tausend Menschen im Elendsviertel “Villa Itatí” in âusserster Armut. Er sammelte zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern Papier, Pappe, Flaschen und was sonst im Müll noch wiederverwertbar ist. Gleichzeitig besuchte er die nahe gelegene Abendschule.
Ein Leben wie das der anderen Jungen seines Alters in “Villa Itatí”. Auch sein Tod war ein Tod wie viele andere alltägliche Tode in “Villa Itatí” und den anderen Elendsvierteln des Armengürtels um Buenos Aires.

An einem heissen Herbstsonntag im April spielte Carlitos barfuss und nur mit Shorts bekleidet Fussball auf dem freien Platz zwischen den beiden Spuren der Autobahn die “Villa Itatí” von “Villa Azul” trennt.
In der Halbzeit gab ein Zuschauer Carlitos Geld um im nahen Kiosk für die Spieler eine Cola zu kaufen.
Als Carlitos vor dem Kiosk stand hielt ein Auto plötzlich an, ein Mann stieg aus und schoss ihm ohne ein Wort zu sagen aus nächster Nähe 2 Kugeln in den Hinterkopf.
Als die Zuschauer des Spieles die kurze Strecke gelaufen kamen war Carlitos schon tot: Der Mann gab sich als Polizist außer Dienst zu erkennen und entschuldigte sich damit dass “er meinte den Jungen vor kurzem bei einem Überfall gesehen zu haben, aber er könne sich irren, da die ja alle gleich aussehen...”
Als die entsetzten und wütenden Nachbarn und Zuschauer begannen auf den Mann einzuschlagen und sein Auto umzustürzen versuchten, war die Polizei gleich zur Stelle, da ja der Krater, den “Villa Itatí” bildet bei Tag und Nacht von Streifenwagen umgeben ist. Die Polizei jagte die Menschen mit Gewalt auseinander.
Als nach längerer Zeit ein Wagen des zuständigen Kommissariats eintraf und damit begann, den Toten zu untersuchen, bemerkten die Familie und Nachbarn, wie unter dem Toten ein Revolver hervorgeholt wurde, den Carlitos nie –halbnackt, wie er war- bei sich gehabt haben könnte. Es war wieder einmal die unter uns alltägliche übliche Art und Weise, das Opfer zu beschuldigen um den Täter zu entlasten.
Der Polizeioffizier wurde schon am nächsten Tag entlassen ohne weiter von der Justiz verfolgt zu werden.

Für mich war die Beisetzung von Carlitos nicht nur wegen des unbeschreiblichen und ungesühnten Mordes einzigartig: Da seine Familie in einer kleinen Holzhütte lebt, in der unmöglich auch nur ein kleiner Sarg Platz findet (Carlitos war für sein Alter klein gewachsen), fand seine Aufbahrung und Trauerfeier am Rande der Autobahn statt, so dass unentwegt Fernbusse, Laster und Autos an uns vorbeirasten. Auch die Pferdchen von etwa 50 Wägelchen, die mit ihren jeweiligen Papiersammlerfamilien dabeistanden, sorgten nicht gerade für Stille und Besinnlichkeit: Es wäre sicher auch eine Zumutung gewesen, von diesen Menschen angesichts des ebenso grauenhaften wie zynischen und maßlos aufreizenden Mordes an einem kleinen Jungen, der einer der ihren war und den sie aufwachsen sahen, so etwas wie Stille und Besinnlichkeit zu erwarten.
Der Zug zum Friedhof wurde für mich zum unvergesslichen Erlebnis: Ich saß mit den Angehörigen auf einem der mindestens 50 wie Schilfboote inmitten des Grosstadtverkehrs unsicher schaukelnden und holpernden Wägelchen mit ihren kleinen Pferdchen, im Talar die riesigen Busse und LKW´s wie Ozeanriesen beachtend, die an uns vorbeirauschten: Die Welt aus einer ganz anderen Perspektive, ganz von unten, ganz von den Kleinen aus, ganz aus der Unsicherheit derer heraus, die man straflos sowohl erschießen wie anrempeln und umstürzen kann.

Von der Beerdigung selbst erinnere ich nur den Anblick der wohl über 50 Wagen und Pferdchen, die alle in den Friedhof hinein- und so nahe ans Grab fuhren, dass sie im Gewimmel etwas sehen und hören konnten.
Und fast an jedem Wagen handgemalte Plakate, die sicherlich die eigentliche und entscheidende Ansprache und Predigt waren. Auf dem rechten Foto sieht man eines dieser Plakate mit dem ebenso berechtigten wie verzweifelten und zur Sprachlosigkeit zwingenden Aufschrei: “SCHLUSS MIT DEM MORD AN DEN UNSCHULDIGEN!”


Diego-16 J., Elias-15 J., Miguel-17 J., Manuel-17 J.


Es ist leicht berichtet aber fast nicht zu glauben, was in der Nacht vom 20 Oktober 2004 in der zentralen und wichtigsten Polizeistation in der Innenstadt von Quilmes geschehen ist.
17 Minderjährige warteten –z.T. seit Monaten- darauf, von der Jugendjustiz in ein Entziehungsheim für Rauschgiftabhängige überführt zu werden. Die Prozedur ist ebenfalls so einfach wie unglaublich: Da es sich allesamt um arme Minderjährige handelte, deren Familie keine Entziehungskur bezahlen können, müssen sich die Minderjährigen selbst dem Richter stellen und sich selbst als Gesetzesbrecher anklagen, da sie nur so auf Staatskosten eingeliefert werden können. Da Rauschgiftkonsum aber eine strafbare Handlung ist, wurden sie augenblicklich als Delinquenten inhaftiert, und da die beiden 4-Bettzellen überfüllt waren, waren in der Nacht des Grauens in einer Zelle 10 und in der anderen 7 Kinder eingepfercht.
Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was geschehen sollte

Den Nachmittag über hatte einer der Jungen, der 16 jährige Diego verzweifelt verlangt seine Eltern besuchen zu dürfen: Er hatte von diesen einen Brief bekommen in dem stand, sein kleiner Bruder sei schwer krank. Unverständlicherweise hatte irgendjemand innerhalb der Polizeistation den Text –vor seiner Übergabe an Diego- dahingehend verändert, dass nun zu lesen war, sein kleiner Bruder sei gestorben.
Diego, der in der 10-Zelle inhaftiert war, begann sich wie wild zu gebärden, so dass er mehrmals von den wachhabenden Polizisten mit dem Gummistock geschlagen wurde. Schließlich entstand ein allgemeiner Aufruhr und die Polizisten kamen in die Zelle und schlugen erbarmungslos auf alle 10 Jungen ein, die weiterhin laut um Hilfe riefen in der Hoffnung, durch das einzige Fenster, das zur Strasse führt, von Menschen gehört zu werden. Der Aufruhr entflammte auch in der anderen Zelle, so dass auch die anderen 7 Jugendlichen rücksichtslos von der Polize geschlagen wurde.
Als alles nichts half, zündeten die Jungens ein Teil eines Schaumgummikissens an, in der Hoffnung, die Fußgänger würden den entstandenen Rauch sehen und die Polizei würde die Zelle öffnen müssen.

Was hingegen geschah ist unvorstellbar: Allen Anzeichen und Untersuchungen nach schüttete jemand von außerhalb Benzin oder Kerosin unter die Blechtüre der 10.Zeller, so dass sich das Feuer in dem Raum, in dem 10 Menschen zusammengepfercht waren, explosionsartig ausbreitete. 4 der Jungen starben in den nächsten Stunden, nachdem sie noch einmal –trotz schwerster Brandwunden- zusammengeknüppelt wurden. Manche von ihnen wurden stundenlang in Streifenwagen herumgefahren, bis sie –alle 10 weit zerstreut voneinander, damit ihre Angehörigen sich nicht treffen und gemeinsam etwas unternehmen konnten- in Hospitäler eingewiesen wurden.


Ich hab Diego und seine Familie gut gekannt, so dass die Mutter mich bat die Trauerfeier und Beerdigung zu leiten. Ich hab´deshalb Diego aus nächster Nähe lange gesehen: Sein Sarg wurde wieder –wie der von Carlitos- mitten in einem Gang des Elendsviertels „Villa Itatí“ aufgebahrt, da auch die Hütte der Familie Maldonado viel zu klein für einen Sarg plus Trauergemeinde war. Ich kann bezeugen, dass die Kinder nicht vom Rauch des Schaumstoffkissens erstickt sondern verbrannt sind. Diegos Gesicht und Hände waren noch im Tod leuchtend rot, ohne jegliche Hautreste, denn die waren alle verbrannt; Diego hatte auch nicht den geringsten Russfleck an den Händen oder im Gesicht: Die –um Jahre verspätete Untersuchung- stellte fest, dass alle 4 Jungen den inneren Brandwunden der Atemwege erlegen sind und keiner Rauchvergiftung, wie es die ersten Befunde der eigenen Polizei bekannt gegeben haben.
Nach 5 Jahren warten die Angehörigen immer noch auf die Gerechtigkeit der Menschen: Bisher wurde kein einziger Polizist wegen dieser 4 Morde verurteilt.

Ich werde nie die letzte Szene vergessen, die ich an Diegos Grab erlebt habe.
Als alle Menschen gegangen waren, blieb ich auf einige Entfernung stehen und schaute zurück.
Da sah ich, dass Diegos Schwester vor dem Grab kniete. Ich ging zu ihr zurück um sie zu umarmen, als ich bemerkte, dass sie eine kleine Zigarette, aus Zeitungspapier und Hasch gedreht, entzündete und in die Erde des frischen Grabhügels steckte. Sie sagte: „Vielleicht hilft es ihm, ein wenig Ruhe zu finden“.

Was wir von der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung meinen:

Schon vor vielen Jahren, im April 1988 haben wir folgendes bekannt gegeben:
“Wir vom MEDH sehen mit größter Sorge den Vormarsch von Kriterien einer angeblichen „Sicherheit“, die weder die sozialen Interessen verteidigen und noch viel weniger die Nöte der Minderjährigen, sondern die einzig und beharrlich das Weiterbestehen einer repressiven Mentalität beweisen, die zur Genüge bewiesen hat, dass sie absolut schädlich für alle Menschen ist, nur nicht für diejenigen, die sie ausüben und sich dadurch bereichern. Man muss deshalb das gesamte Sozial- und Rechtssystem, insofern es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, von Grund auf verändern. Wir werden nie dadurch eine größere „Sicherheit“ erreichen, dass wir eine noch stärkere und ausgeweitete Repression der Kinder errichten, mit stärkeren Gittern und größeren Vorhängeschlössern: ¿Wie sollten wir auch unsere armen Jugendlichen davor schützen, gegen das Gesetz zu handeln, während die Folterer und Mörder der Diktatur frei und straflos unter uns umherstolzieren? Wir sehen mit Entsetzen, dass es viele Richter gibt, die unsere Kinder dem „Gewahrsam“ jener professioneller kriminellen Schergen der Diktatur übergeben wollen, die weiter ihr Unwesen treiben“.

Arturo Blatezky
Mai 2009

Dienstag, 24. November 2009

offizielle Berichte

Ich hab's mit der freundlichen Hilfe des weitaus computerbewanderteten Bennys (Gracias an dieser Stelle!) endlich geschafft, meinen ersten offiziellen Zwischenbericht, den ich Ende Oktober für meine Entsendeorganisation in Deutschland schreiben "musste", online zu stellen. Rechts an der Seite findet ihr jetzt also den entsprechenden Link dazu - einfach anklicken, dann kann man den Bericht lesen und bei Bedarf auch runterladen und abspeichern.
Toll, was das Internet so alles kann oder?

Freitag, 13. November 2009

... immer auf Achse

Buenas Noches Todos !!

Ich weiß... Asche auf mein Haupt, dass ich nun schon soooo lange nichts mehr geschrieben habe. Tut mir wirklich leid! Aber ich hatte im letzten Monat wirklich viel zu tun, proppevolle Wochenenden, viele viele neue Dinge... Da hatte ich einfach nicht die Zeit zum Schreiben, aber vor allen Dingen fehlte mir die Ruhe dazu, da man ja irgendwie immer erst einmal selber die ganzen Ereignisse duchdenken und sich setzen lassen muss, bevor man sie zu Texten weiterverarbeitet.
So, dafür aber jetzt. Was ist in den letzten Wochen alles passiert?
Anfang Oktober war ich, trotz meiner sonstigen Abneigung gegen Fußball, mit vier anderen Voluntären bei dem Länderspiel Argentinien gegen Peru. Dieses Spiel war besonders wichtig, da es für Argentinien um die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2010 ging. Insgesamt war der ganze Tag ein super Erlebnis! Bereits auf dem Weg zum Stadion, auf dem wir uns einfach von den MenschenMASSEN haben mitziehen lassen, herrschte eine Megastimmung. Überall hörte man Sprechchöre und Murgatrommeln, die die Menge anheizten. Der große Wow-Effekt kam dann, als wir das Stadion betraten: Ich habe noch nie so ein riesiges Fußballstadion gesehen (wenn doch, kann es nicht so beeindruckend gewesen sein, da ich mich offensichtlich nicht dran erinnere) ! Während die erste Halbzeit eher langweilig war, gestaltete sich die zweite dafür umso spektakulärer. Erst fiel ein Tor (juchu! große Erleichterung in ganz Argentinien), dann fing es auf einmal an, wie aus Kübeln zu gießen und zu gewittern, worauf weder Fans noch Spieler vorbereitet waren. Als dann auch noch Peru ein Tor schoss, glich die Situation dem Weltuntergang - doch dann, in der vorletzten Minute der Nachspielzeit, kam das erlösende 2:1 für Argentinien! Das Stadion tobte und Diego Maradonna hat vor Freude einen Bauchklatscher auf dem schwimmenden Rasen hingelegt, der am nächsten Tag in sämtlichen Zeitungen Argentiniens auf der Titelseite zu bewundern war. Am beeindruckendsten waren für mich die "Sicherheitsvorkehrungen", die bei solchen Fußballspielen gelten. Schon auf dem Hinweg kamen uns ein riesiger Trupp an Polizisten entgegen, die allesamt mit Schlagstöcken und Schusswaffen bewaffnet waren. Außerdem wird auf Fußballtunieren grundsätzlich kein Bier verkauft, da das Gewaltpotenzial anscheinend auch nüchtern schon hoch genug ist... die Schimpftiraden, mit denen die Argentinier ihre peruanischen Gegner beschimpften, hinterließen auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck. Während man auf deutschen Fußballplätzen vielleicht Ausdrücke wie "Schweine" oder "Weichei" hört, legen die Argentinier gleich mit richtig harten Kraftausdrücken los. Hinter mir saß ein kleiner Junge, der mit seinem Vater das Spiel angeschaut hat. Beide, sogar der Kurze, schrien unentwegt "Hijo de Puta" und "Concha de tu madre", als ein peruanischer Spieler verletzt auf dem Rasen lag (ich lasse das an dieser Stelle mal unübersetzt - wen's wirklich interessiert, kriegt's schon irgendwie raus). Ich bin zwar immer noch nicht zum großen Fußballfan geworden (auch wenn sich das Thema hier in Argentinien einfach nicht umgehen lässt...), aber insgesamt war es eine atmosphärisch einmalige Erfahrung!
Am selbsen Wochenende habe ich mit Hannah, einer weiteren Freiwilligen aus BsAs, einen Tagesausflug nach Tigre gemacht. Tigre ist eine wunderschönen Insellandschaft, die sich im Flußdelta des Rio de la Plata, also im Norden von BsAs, befindet. Wir haben eine kleine Bootstour durch's Flußdelta gemacht, die eine oder andere kleine Insel bewandert und einfach die schöne Natur genossen. Man hat sich wirklich gefühlt,als würde man im Dschungel umherwandern... Schon lustig, dass sich so eine kleine, andere Welt nur eine Stunde Zugfahrt von der Riesenstadt BsAs entfernt befindet. Auf jeden Fall hat uns unser Ausflug dorthin so gut gefallen, dass wir uns mal nach Möglichkeiten zur Übernachtung dort erkundigt haben. Und siehe da: Wenn alles glatt läuft, mieten wir mit ein paar anderen Freunden über Weihnachten ein kleines Häuschen am Fluss und feiern dort gemeinsam Weihnachten unter Palmen.
Es geht weiter, ich hab noch mehr Ausflüge unternommen in letzter Zeit:
Ende Oktober bin ich zusammen mit Mitarbeitern aus meinem Projekt für ein Wochenende nach Villa Gessel gefahren. Der kleine Ort liegt an der Südküste Argentiniens und ist ein beliebtes Urlaubsziel der Einheimischen. Man spricht hier auch von "ciudades fantasmas" - zu dt. Geisterstädten, da diese Kleinstädte am Meer im Winter wie menschenleer erscheinen und im Sommer vor lauter Urlaubern und Touristen geradezu explodieren. Zum Glück zählt der Oktober hier noch zum Frühling, weshalb ich wohl so das Mittelstadium erlebt habe. Jedenfalls fand an dem Wochenende eine von der Universität BsAs ausgerichtete Fortbildung für sämtliche Berufe der sozialen Arbeit, Psychotherapie oder Entwicklungshilfe statt. Auch wenn ich lange nicht alle Vorträge, die an diesem Wochenende gehalten wurden verstanden habe, so hat es doch eine Menge Spaß gemacht. Es gab zwischendurch immer mal wieder kleine Workshops zu Themen wie "Kunst & Musik", "Bodyexpression" oder "mediale Arbeit", die ziemlich lustig waren, sobald man die eigene Hemmschwelle erst einmal überwunden hatte. Außerdem ist Villa Gessel wirklich ein wunderhübscher kleiner Ort, der sich eben direkt am Meer befindet. Vielleicht ein bisschen mit Eckernförde vergleichbar... Auf jeden Fall hab ich es genossen, mal wieder am Strand zu sein und mit den Füßen im Meer zu stehen, auch wenn es nicht die Ostsee war ;) Ein weiterer "Erfolg" dieses Wochenendes in Gessel war, dass ich meine Mitarbeiter noch mal näher und besser kennengelernt habe. Wir haben zu siebt in dem dortigen Ferienhaus unserer Chefin gewohnt, viel Musik gemacht, geschnackt, getrunken und natürlich Asado gegessen! Dabei wurde ich quasi dazu genötigt, das argentinische Fleisch in den Himmel zu loben (es war aber auch wirklich sehr lecker!), durfte aber dafür im Gegenzug auch noch ein Plädoyer auf das deutsche Bier halten, denn das ist nun wirklich besser als die Plörre, die sie hier verkaufen. Insofern hat sich das Wochenende auf sprachlicher, kultureller und zwischenmenschlicher Ebene voll gelohnt!
Ein absolutes Highlight der letzten Wochen war außerdem das Konzert der TOTEN HOSEN - jaha, richtig gehört. Aus irgendeinem Grund, ich weiß selbst nicht so genau warum, sind die Toten Hosen hier in Argentinien äußerst bekannt und beliebt. Anfang November traten sie daher im Rahmen eines großen, jährlich stattfindenden Musikfestivals auf. Da wir schon seit langem davon wussten, haben wir es tatsächlich hinbekomen, einen Trupp von über 20 Leuten zusammenzutrommeln, mit denen wir dann auf's Festival gegangen sind. Da es leider an dem Tag geregnet hatte, stand das ganze open air Festivalgelände unter Wasser bzw. Matsch (ich hab am nächsten Tag eine Stunde damit verbracht, den Dreck von meinen Turnschuhen zu schrubben). Doch pünktlich zum Auftritt der Hosen hörte es dann auf zu regnen, sodass ohne Probleme gerockt werden konnte. Im Ernst: Es ist der reinste Wahnsinn, wie die Argentinier abgehen können, wenn sie nur jemand ordentlich anheizt, was Campino weiß Gott geschafft hat. Außerdem war es irgendwie lustig, inmitten einer Masse argentinischer Fans zu stehen, die lauthals die deutschen Texte mitgröhlen können, obwohl sie null Ahnung haben, was da eigentlich gesungen wird. Unter folgendem Link findet ihr übrigens einen kurzen 5-min Bericht des ZDFheute-Journals über das Konzert der Toten Hosen in BsAs: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/878050/Die-Toten-Hosen-in-Buenos-Aires-#/beitrag/video/878050/Die-Toten-Hosen-in-Buenos-Aires

Leider war der Tag auf dem Festival nicht nuuur super. Grundsätzlich wird auf Konzerten hier in Argentinien immer sehr viel geklaut, wovon auch unsere Gruppe nicht verschont blieb. Insgesamt wurden uns zwei Digitalkameras, ein Handy und noch diverser Kleinkram geklaut - einfach so aus der Jackentasche raus, ohne dass man was gemerkt hat. Einer Freiwilligen wurde sogar die Handtasche von unten aufgeschlitzt. Ich hatte zum Glück erst gar keine Wertsachen mitgenommen, sonst wären die jetzt bestimmt ebenfalls weg. Tja, dass ist eben auch Argentinien... ordentlich Party machen, aber dabei auch ordentlich abstauben.
Vergangenes Wochenende sind Hannah und ich gemeinsam für ein paar freie Tage nach Paraguay gefahren, wo wir zwei weitere Voluntäre der IERP, Benny und Nina, in ihrem Projekt besucht haben. Dieser Trip bot sich sowieso an, da wir auf Grund unseres abgelaufenen Einreisestempels ein mal das Land verlassen mussten, um unser Touristenvisum, das halt immer nur drei Monate gültig ist, bei der Rückreise zu erneuern. Am Samstag haben wir Bennys Geburtstag gefeiert und "zufälligerweise" fand gerade an dem Samstag auch noch das große "Chopfest", ein Art Abklatsch vom Oktoberfest im Kleinformat, statt. Es gab Festzelte, Schlagermusik und litterweise labbriges, dafür hochprozentiges Bier. In dieser fröhlichen, ausgelassenen und irgendwie "pseudo-deutschen" Atmosphäre feierten wir dann bis in den Morgen. Insgesamt war der Trip nach Paraguay sehr sehr schön. Es macht immer Spaß, sich mit den anderen Voluntären zu treffen, Erfahrungen auszutauschen und einfach ein bisschen zusammen zu chillen, was wir auch ausgiebigst getan haben. Großteile der Zeit verbrachten wir mit gemeinsamem Kochen, im Pool baden und am Lagerfeuer sitzen. Allerdings haben wir auch einen kleinen Ausflug zu den Ruinen der Jesuitenreduktion in Paaguay gemacht, die heute angeblich Teil des Weltkulturerbes sind.
Was mir insgesamt am meisten gefallen hat, war, Paraguay als Land kennenzulernen, da es sich wirklich komplett von dem, was ich bisher aus Argentinien gewohnt bin, unterscheidet. Die Natur ist ziemlich beeindruckend, überall gibt es saftgrüne Wiesen und rote Erde. Dennoch kann die Schönheit der Natur nicht über die Armut der Menschen hinwegtäuschen. Als wir eine der insgesamt zwei Straßen (kein Scherz: in ganz Paraguay gibt es nur zwei Rutas, die dafür durch's ganze Land führen) langgefahren sind, sah man eine kleine Farm neben der nächsten - und sonst nichts! Die Menschen leben eben mit ihren großen Familien in viel zu kleinen Häusern. Außerdem fehlt, wie mir schien, jegliche infrastrukturelle Versorgung. Wenn man Glück hat, hat man Zugang zu fließendem Wasser und unzuverlässigem Strom. An Telefon- oder sogar Internetleitungen ist für die meisten Menschen gar nciht erst zu denken. Doch trotzdem machten fast alle Menschen, die ich getroffen habe, einen wahnsinnig liebevollen und offenen Eindruck auf mich. Man lebt zwar spartanisch, aber dafür fröhlich und vor allem spontan! In Paraguay hab ich außerdem Dinge erlebt, an die in BsAs überhaupt nicht zu denken wären. So sind wir innerhalb der vier Tage, die wir dort waren, insgesamt drei mal getrampt - Daumen raus, Wagen anhalten und zack: schön zu sechst rauf auf die Ladefläche von so nem PickUp! Alles in allem haben wir also ein äußerst tranquiges (ruhiges) und lustiges Wochenende dort in Hohenau verbracht. Dennoch war ich froh, als wir wieder in BsAs angekommen waren. Zivilisation, Infrastruktur und generell eine gewisse, wenn auch langsame Organisation des öffentlichen Lebens haben schon so ihre Vorteile. Ich bin halt doch irgendwie mehr Stadt- als Landkind...
So, noch kurz ein paar Sätze zur...
- Sprache: läuft immer immer besser! Seit drei Wochen habe ich es dann auch endlich mal geschafft, mir Sprachunterricht zu organisieren, um einfach noch ein bisschen mehr Grammatik zu lernen. Aber mitlerweile habe ich das Gefühl, dass mein Spanisch langsam alltagstauglich wird. Ich bleib am Ball...
- Arbeit: nach wie vor super! La Paloma ist echt ein tolles Projekt, in dem ich immer mehr meinen Platz finde. Die Kinder wachsen mir ans Herz, der Draht zu den Mitarbeitern wird stetig enger und so langsam finde ich Wege, sie nicht nur bei der Arbeit zu unterstützen, sondern mich auch selbst ein bisschen mehr einzubringen. Zum Beispiel werde ich für Dezember einen Adventskalender vorbereiten (so etwas kennen die Argentinier nämlich gar nicht!), an dem die Kinder jeden Tag ein Überraschungssäckchen öffnen dürfen, worin sich dann Geschichten, Süßigkeiten oder andere Kleinigkeiten befinden. Aber davon berichte ich dann das nächste Mal.
- WG: ebenfalls nach wie vor gut. Gerade heute abend fiel der Satz "Wir sind die stylischste WG überhaupt!" Grund dafür war ein weiteres Wandgemälde, das Simon gezaubert hat. Das Zimmer der Jungs ziert jetzt eine überdiensional große Silhouette von Marilyn Monroe im Andy Warhol-Look...

Dale, me voy a la cama (Also, ich geh jetzt ins Bett). Fotos und Videos (!) vom Erzählten sind wie immer im neuen Album zu bewundern. Viel Spaß beim angucken!
Buenas Noches und eine schöne vorweihnachtliche Zeit wünscht euch
*merle*

PS: Wer Interesse an meinem ersten Zwischenbericht hat, den ich vor kurzem für meine Entsendeorganisation, das NMZ, geschrieben habe und in dem ich einen Rundumbericht über meine ersten Monate in Argentinien liefere, soll sich einfach bei mir (merlesievers@web.de) oder meinen Eltern melden, dann wird der ganz locker per Mail zugeschickt.

Montag, 2. November 2009

pronto, pronto...

Bald schreib ich wieder n Blog... Es gibt auch wieder wahnsinnig viel zu erzählen, aber im Moment hab ich einfach nicht die Zeit und auch nicht die Ruhe dazu, zu schreiben. Am Donnerstag geht's für ein langes Wochenende nach Paraguay, wo ich zwei andere Voluntäre in ihrem Projekt besuche. Danach werde ich mir die Zeit nehmen, meine Erlebnisse endlich mal wieder schriftlich festzuhalten, versprochen! Sonst platzt mein Kopf auch bald...
Also, mir gehts prächtig, ich hoffe euch auch!
Beso