Montag, 22. März 2010

Eine besondere Woche

Diese Woche ist in mehrer Hinsicht besonders:
Am kommenden Mittwoch den 24. März ist "Día de la Memoria", ein nationaler Feiertag in Argentinien. An diesem Datum wude vor 34 Jahren, also im Jahre 1976 die damalige Präsidentin Isabel Peron gestürzt und die Militärs übernahmen die Macht in Argentinien - der Beginn der Militärdiktatur!
Der 24. März soll also an die Diktatur und an die währenddessen gestorbenen oder verschwundenen Menschen erinnern.
Anlässlich dieses Feiertages und der Wiederaufnahme der täglichen Salonaktivitäten steht diese Woche in La Paloma ganz unter dem Motto "Demokratie".
Heute haben wir Educadores uns zum Beispiel alle in rot/schwarz gekleidet und haben die Gruppe "Los Magio" ins Leben gerufen, die fortan die "Macht" in La Paloma übernahmen. Durch unsere Outfits sahen wir alle sehr uniform aus, wir haben uns einen internen neuen Gruß ausgedacht und in unserer eigenen nasal klingenden Schlumpfensprache geredet.
Nachdem wir uns den Kindern als die neuen Führer vorgestellt hatten, hingen wir überall in La Paloma Verbotsschilder auf. Wir haben alles verboten, was Spaß macht und alltäglich in La Paloma ist. Vortan durfte man nicht mehr Fußball spielen, sich nicht in Gruppen zusammenfinden, lachen oder Fragen stellen. Wenn die Kinder gegen eines dieser Verbote verstießen, wurden sie mit Wasserpistolen bestraft. Wir haben also quasi für eine Stunde unsere eigene, kleine Diktatur in La Paloma errichtet.
Die Kinder fanden dieses ganze Showprogramm natürlich in erster Linie witzig, doch es war spannend zu sehen, wie sich die Kinder nach einiger Zeit miteinander besprochen haben. Es waren Vorschläge zu hören wie: "Kommt alle hierher und dann hauen wir gemeinsam ab!"
Nach einer Stunde haben wir die Herrschaft der "Magio" dann aufgelöst und mit den Kindern das eben Erlebte besprochen. Es wurde erklärt, dass es vor gar nicht so langer Zeit wirklich eine solche Diktatur in Argentinien gab und dass das damals nicht so lustig ablief, wie wir es aufgezogen hatten. Dass damals das ganze Land von Angst und Schrecken beherrscht war, weil man nicht mehr öffentlich seine Meinung sagen durfte und wenn man es tat, musste man damit rechnen verschleppt zu werden.
Die Kinder haben ganz schnell verstanden, dass es ein Glück ist, dass es dieses System heute nicht mehr gibt. Trotzdem feiert man eben einmal im Jahr diesen Feiertag, um sich an das Geschehene zu erinnern.
In der kommenden Woche werden wir jedenfalls noch mehr Aktionen zum Thema "Demokratie" machen. Da wir jetzt nach der großen Sommerpause wieder mit den Gruppenaktivitäten in La Ploma beginnen, werden wir zum Beispiel eine große Wahl veranstalten, bei der die Kinder sich selbst mehrer mögliche Namen für ihre Gruppe überlegen und dann anhand von Stimmzetteln abgestimmt wird, wie die Gruppe sich das ganze kommende Jahr über nennen wird. Eben wie bei einer richtigen Wahl: Alle dürfen mitwählen, jede Stimme hat das gleiche Gewicht und am Ende müssen alle die gemeinsam getroffene Entscheidung akzeptieren.

Mittwoch, 24. März: Marcha

Heute war also der große Feiertag. Nachdem ich gestern abend mit fünf Mädels das Nelly Furtado-Konzert besucht hatte, war ich auch ganz froh, dass wir heute morgen etwas ausschlafen konnten. So gegen zwei Uhr mittags habe ich mich dann mit Hannah und meinen beiden Mitbewohnern auf den Weg richtung Innenstadt gemacht. Wir fuhren mit der Subte bis zum Congreso, dem Parlamentsgebäude von Buenos Aires, von wo aus eine der vielen Demonstrationen losgehen sollte. Als wir dort ankamen waren der Platz und die Straßen auch schon ziemlich gut mit Menschenmassen gefüllt.
Das besondere an dieser Demonstration ist, dass die verschiedensten Gruppen, Vereine und Trupps daran teilnehmen: Kirchen, Parteien, Universitäten, soziale Einrichtungen und NGOs... Und obwohl die Leute aus so unterschiedlichen Motivationen heraus und mit so unterschiedlichen Hintergründen kommen, haben sie doch alle den gleichen gemeinsamen Nenner für den sie kämpfen. Sie kämpfen für die politische und persönliche Freiheit des Einzelnen, für den Erhalt der Menschenrechte. Man sollte meinen, dass man in einem "so zivilisierten und europäisierten" Land wie Argentinien nicht mehr für solche Dinge zu demonstrieren braucht, doch der Tag heute hat mir gezeigt, wie groß vor allem noch das Bedürfnis der Bevölkerung ist, diesen Tag zu begehen. Dabei steht vor allen Dingen die Erinnerung an die 30.000 Menschen im Vordergrund, die während der Militärdiktatur in Argentinien "verschwunden" und ermordet worden sind. Die sogenannten "Desaparecidos" waren meist junge Leute, die (links-)politisch aktiv gegen das Regime waren. Sie wurden verfolgt, verschleppt, gefoltert und über dem Rio de la Plata aus Flugzeugen geworfen. Außerdem wurden viele Babys, die in Gefangenschaft geboren wurden, ihren jungen Müttern direkt nach der Geburt weggenommen und an die Familien hochrangiger Militärs gegeben. Diese Kinder sind heute um die 30 Jahre alt und wissen teilweise immer noch nichts von ihrer eigentlichen Herkunft und dem Schicksal ihrer Eltern.
Um diese Schicksale zu sühnen, auf die Desaparecidos aufmerksam zu machen und jenen dunklen Teil der Geschichte Argetniniens nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, versammeln sich also jährlich am 24. März zehntausende Menschen in der Innenstadt und demonstrieren auf der berühmten Plaza de Mayo, an der sich auch die Casa Rosada, das Regierungsgebäude, befindet. Allen voran marschieren natürlich die "Madres" der Plaza de Mayo, eine Gruppe Frauen/Mütter, die das ganze Jahr über daran arbeiten, Kinder von Verschwundenen zu ihren wahren Familien zurückzuführen. Außerdem kämpfen sie für die Verurteilung der Militärs, die damals vor über 30 Jahren dieses ganze Unrecht verbrochen haben. Denn leider befinden sich viele von ihnen noch immer auf freiem Fuß und wurden bisher noch nicht für ihre Vergehen zur Verantwortung gezogen.
Auf jeden Fall war es für mich ein beeindruckender Tag. Es war toll die Stimmung mitzubekommen, die verschiedenen jungen Menschen aus allen Teilen des Landes mit ihren Bannern und Schildern zu sehen. Außerdem war überall die Murga (= Trommel) zu hören, es wurde getanzt, gesungen und Mate getrunken. Und das alles in einer friedlichen, aber doch irgendwie bewussten und gespannten Atmosphäre.
Irgendwie fehlt so ein politisches Bewusstsein und dessen Umsetzung auf der Straße in Deutschland ein bisschen finde ich...

Freitag, 26. März: Día de la Votación

Um den Kindern ein „anderes“ System, nämlich die Demokratie als Pendant zur Diktatur, näher zu erklären, wurden gestern Wahlen zur Namensgebung der Gruppen in La Paloma veranstaltet.
Beide Kindergruppen überlegten sich während der zweitägigen Vorbereitungsphase Namensvorschläge für ihre Gruppen. Auf der Suche nach möglichen Namen wurden auch Nachbarn, Freunde und Bekannte befragt und sogar Eltern telefonisch zu Rate gezogen. Nachdem für jede Gruppe dann irgendwann drei Favoriten feststanden, fingen die Kinder an, Wahlplakate für die jeweiligen Namensvorschläge zu entwerfen. Meine Gruppe hatte sich auf folgende drei Vorschläge geeinigt:

- Los 5 Mosqueteros y sus 2 Princesas (die 5 Musketiere und ihre 2 Prinzessinen)
- Los Demonios 2010 (die Dämonen 2010)
- Los Originales (die Originale)






Wahlplakate








Außerdem wurden sowohl eine große, bunte Wahlurne als auch Personalausweise für jedes Kind gebastelt. Am Tag der Wahl wurde La Paloma dann in ein richtiges, kleines Wahllokal verwandelt. Die Kinder mussten ihren Personalausweis vorzeigen, sich einen Stempel geben lassen und durften dann in einer Wahlkabine ihre Stimmzettel ausfüllen. Am Ende des Tages haben wir die Stimmzettel vor aller Augen im Speisesaal ausgezählt und den Gewinner bekannt gegeben. Meine Gruppe hat sich mit überwältigender Mehrheit (6:1 !!!) für "die 5 Musketiere und ihre 2 Prinzessinen" entschieden. War klar, dass der längste und schwierigste aller drei Vorschläge gewinnt...
Auf jeden Fall wurden den Kindern durch dieses Procedere die wesentlichen Werte der Demokratie vermittelt: Entscheidungen müssen zusammen getroffen werden, alle dürfen mitmachen, jede Stimme hat das gleiche Gewicht und am Ende müssen alle das Ergebnis akzeptieren und mittragen.
Bleibt zu hoffen, dass sie diese Erfahrung wertschätzen und sie mit in ihr wirkliches Leben nehmen, dass der Gedanke der Demokratie und Solidarität in ihren Köpfen bleibt.

Bilder und Videos(!) dieser ereignisreichen Woche finden sich in dem Fotoalbum "Día de la Memoria".

1 Kommentar:

  1. oh cool merle...die sind echt so engagiert die polomesen....sag ihnen mal ein dickes lob...ich schneide mir immer noch eine scheibe von ihrer liebe und ihrem engagement für die kids ab!!!!

    dickes lob...ihr macht das super!!!

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