Freitag, 27. November 2009

"Das Gespenst der (Un-)Sicherheit in Argentinien"

Der folgende Artikel ist vor kurzem in unserem Boletín Voluntariado (einer Art „Newsletter“ für die Freiwilligen der IERP) erschienen. Arturo Blatezky ist Pfarrer der ev. Kirche am Rio de la Plata und arbeitet außerdem für die Menschenrechtsorganisation MEDH, mit der die IERP eng zusammenarbeitet. Ich habe Arturo bereits während unseres Einführungsseminars im Isedet kennengelernt und ihn als sehr beeindruckenden, authentischen Mann erlebt, der unheimlich viel Erfahrung auf dem Gebiet der Menschenrechtsarbeit hat.
Arturo hat nun wie gesagt im letzten Boletín einen Bericht zum Thema „Unsicherheit in Argentinien“ geschrieben, den ich für sehr gut und anschaulich halte, und ihn euch daher nicht vorenthalten möchte.
Vorab sollte man jedoch wissen, dass die gesellschaftliche Situation hier in Argentinien ziemlich verfahren ist. Auf der einen Seite dominiert die große Schere zwischen Arm & Reich das Leben der Menschen, auf der anderen Seite das Problem der immensen Korruption. Die Menschen hier (vor allem die jüngeren Generationen) haben einfach null Vertrauen in Polizei und Justiz, da beide Instanzen nicht gegen das bestehende Unrecht ankämpfen, sondern im Gegenteil, sogar in vielen Fällen Quelle desselbigen sind. Die Fälle, von denen Arturo in seinem Artikel berichtet sind bestes Beispiel für die Zustände hier in Argentinien. Mir blieb der Mund beim Lesen offen stehen, gerade weil ich weiß, dass die Sachen wirklich erst vor kurzem so passiert sind.
Da der Originaltext ziemlich lang ist, habe ich ihn für diesen Post hier gekürzt. Wer aber gerne den vollen Artikel lesen möchte, kann rechts einfach auf den entsprechenden Link klicken.
Wem’s zu viel Text ist, kann ja einfach nach unten scrawlen – dort gibt’s dann wieder friedliche, schöne Worte von mir zu lesen ;)


EIN GESPENST GEHT UM IN ARGENTINIEN - DAS GESPENST DER UNSICHERHEIT...


Macri – De Narvaez & Co.: „Die unpolitischen Unternehmer-Politiker“
[…] ¿Wie sieht die „Schaffung von Sicherheit für die anständigen Bürger“ durch Bürgermeister Macri in der Stadt Buenos Aires aus? Das beste Beispiel ist ohne Zweifel die Schaffung der UCEP-Brigade, der „Einheit für die Kontrolle der Allgemeinen Öffentlichkeit“.
Konkret besteht diese Massnahme darin, dass eine –geheime- Gruppe von zivilen Stadtangestellten eingestellt wurden, die nachts durch die ärmeren und verborgenen Gegenden der Stadt Buenos Aires in Privatwagen patrouilliert um Bettler und Homeless, die zu Hunderten unter den Brücken der Autobahnen, Vordächer o.ä. zu übernachten versuchen, mittels mehr oder weniger eindeutiger, leichterer oder schwerer Gewalt vertreiben. Diese Aktionen der UCEP-Brigade gingen so weit, dass selbst der Oberkommissar der für die Stadt zuständige Staatspolizei sich von ihnen distanzierte und abstritt, etwas damit zu tun zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass das Macri-Dekret besteht und die UCEP in ihrer Handlungsfreiheit sogar ausdrücklich ausgeweitet wurde. Ihr offizielles Büro und Handlungsbasis ist […] im Zentrum von Buenos Aires und ihre Aktionen werden öfters mit LKW´s der privaten Müllversorgung der Stadt begleitet und unterstützt. Ebenso wie von privaten PKW´s in denen jeweils mehrere große, athletisch gebaute Männer mitfahren, die sich alle durch schwarze Uniformen auszeichnen.

Wir begleiten und zeigen diese gewalttätigen Übergriffe von staatlich-angestellten illegalen Schlägerbanden seit einiger Zeit gemeinsam mit der katholischen Gemeinde der Klaretianer von Constitución an, dem wichtigsten Endbahnhof der Züge, die aus Patagonien und dem Süden einlaufen.
Ein guter Freund, Pfarrer Jorge Alonso hat vor Gericht folgendes ausgesagt:
“Es war etwa um 12 Uhr nachts als ich von der Strasse –von unterhalb der Autobahn her- Schreie hörte. Es war ein mir sehr gut bekannter Mann, der seit einiger Zeit neben der Mauer unserer Gemeinde übernachtet und manchmal kommt um Essen, Mate-Tee, Zucker o.ä. zu verlangen. Ich schaute aus dem Fenster und bemerkte etwa 18 bis 20 junge Männer, alle in schwarzer Uniform, die auf den Mann zuredeten. Dann stiegen sie in ihre Autos und fuhren weg. Am nächsten Tag kam der Mann zu mir und erzählte, sie hätten ihn bedroht, er solle machen dass er dort wegkäme. Der (66. jährige) Mann war sehr verängstigt und sprach nur davon, dass sie ihm damit gedroht hatten, nächstes Mal würden sie ihn wegprügeln.
Es ist genauso, wie es unser Kardinal Bergoglio immer wieder sagt: Die Menschen sind für die Regierung dieser Stadt überflüssig, man kann sie behandeln wie Wegwerfmüll. […]


Die wahren Opfer der “Unsicherheit der kapitalistischen Gesellschaft”


Carlitos – 14 Jahre

Wenige Dinge haben mich in meinem Leben so bewegt wie die Beerdigung des 14. jährigen Carlitos.
Carlitos lebte mit seiner Familia wie die anderen 45 bis 50 Tausend Menschen im Elendsviertel “Villa Itatí” in âusserster Armut. Er sammelte zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern Papier, Pappe, Flaschen und was sonst im Müll noch wiederverwertbar ist. Gleichzeitig besuchte er die nahe gelegene Abendschule.
Ein Leben wie das der anderen Jungen seines Alters in “Villa Itatí”. Auch sein Tod war ein Tod wie viele andere alltägliche Tode in “Villa Itatí” und den anderen Elendsvierteln des Armengürtels um Buenos Aires.

An einem heissen Herbstsonntag im April spielte Carlitos barfuss und nur mit Shorts bekleidet Fussball auf dem freien Platz zwischen den beiden Spuren der Autobahn die “Villa Itatí” von “Villa Azul” trennt.
In der Halbzeit gab ein Zuschauer Carlitos Geld um im nahen Kiosk für die Spieler eine Cola zu kaufen.
Als Carlitos vor dem Kiosk stand hielt ein Auto plötzlich an, ein Mann stieg aus und schoss ihm ohne ein Wort zu sagen aus nächster Nähe 2 Kugeln in den Hinterkopf.
Als die Zuschauer des Spieles die kurze Strecke gelaufen kamen war Carlitos schon tot: Der Mann gab sich als Polizist außer Dienst zu erkennen und entschuldigte sich damit dass “er meinte den Jungen vor kurzem bei einem Überfall gesehen zu haben, aber er könne sich irren, da die ja alle gleich aussehen...”
Als die entsetzten und wütenden Nachbarn und Zuschauer begannen auf den Mann einzuschlagen und sein Auto umzustürzen versuchten, war die Polizei gleich zur Stelle, da ja der Krater, den “Villa Itatí” bildet bei Tag und Nacht von Streifenwagen umgeben ist. Die Polizei jagte die Menschen mit Gewalt auseinander.
Als nach längerer Zeit ein Wagen des zuständigen Kommissariats eintraf und damit begann, den Toten zu untersuchen, bemerkten die Familie und Nachbarn, wie unter dem Toten ein Revolver hervorgeholt wurde, den Carlitos nie –halbnackt, wie er war- bei sich gehabt haben könnte. Es war wieder einmal die unter uns alltägliche übliche Art und Weise, das Opfer zu beschuldigen um den Täter zu entlasten.
Der Polizeioffizier wurde schon am nächsten Tag entlassen ohne weiter von der Justiz verfolgt zu werden.

Für mich war die Beisetzung von Carlitos nicht nur wegen des unbeschreiblichen und ungesühnten Mordes einzigartig: Da seine Familie in einer kleinen Holzhütte lebt, in der unmöglich auch nur ein kleiner Sarg Platz findet (Carlitos war für sein Alter klein gewachsen), fand seine Aufbahrung und Trauerfeier am Rande der Autobahn statt, so dass unentwegt Fernbusse, Laster und Autos an uns vorbeirasten. Auch die Pferdchen von etwa 50 Wägelchen, die mit ihren jeweiligen Papiersammlerfamilien dabeistanden, sorgten nicht gerade für Stille und Besinnlichkeit: Es wäre sicher auch eine Zumutung gewesen, von diesen Menschen angesichts des ebenso grauenhaften wie zynischen und maßlos aufreizenden Mordes an einem kleinen Jungen, der einer der ihren war und den sie aufwachsen sahen, so etwas wie Stille und Besinnlichkeit zu erwarten.
Der Zug zum Friedhof wurde für mich zum unvergesslichen Erlebnis: Ich saß mit den Angehörigen auf einem der mindestens 50 wie Schilfboote inmitten des Grosstadtverkehrs unsicher schaukelnden und holpernden Wägelchen mit ihren kleinen Pferdchen, im Talar die riesigen Busse und LKW´s wie Ozeanriesen beachtend, die an uns vorbeirauschten: Die Welt aus einer ganz anderen Perspektive, ganz von unten, ganz von den Kleinen aus, ganz aus der Unsicherheit derer heraus, die man straflos sowohl erschießen wie anrempeln und umstürzen kann.

Von der Beerdigung selbst erinnere ich nur den Anblick der wohl über 50 Wagen und Pferdchen, die alle in den Friedhof hinein- und so nahe ans Grab fuhren, dass sie im Gewimmel etwas sehen und hören konnten.
Und fast an jedem Wagen handgemalte Plakate, die sicherlich die eigentliche und entscheidende Ansprache und Predigt waren. Auf dem rechten Foto sieht man eines dieser Plakate mit dem ebenso berechtigten wie verzweifelten und zur Sprachlosigkeit zwingenden Aufschrei: “SCHLUSS MIT DEM MORD AN DEN UNSCHULDIGEN!”


Diego-16 J., Elias-15 J., Miguel-17 J., Manuel-17 J.


Es ist leicht berichtet aber fast nicht zu glauben, was in der Nacht vom 20 Oktober 2004 in der zentralen und wichtigsten Polizeistation in der Innenstadt von Quilmes geschehen ist.
17 Minderjährige warteten –z.T. seit Monaten- darauf, von der Jugendjustiz in ein Entziehungsheim für Rauschgiftabhängige überführt zu werden. Die Prozedur ist ebenfalls so einfach wie unglaublich: Da es sich allesamt um arme Minderjährige handelte, deren Familie keine Entziehungskur bezahlen können, müssen sich die Minderjährigen selbst dem Richter stellen und sich selbst als Gesetzesbrecher anklagen, da sie nur so auf Staatskosten eingeliefert werden können. Da Rauschgiftkonsum aber eine strafbare Handlung ist, wurden sie augenblicklich als Delinquenten inhaftiert, und da die beiden 4-Bettzellen überfüllt waren, waren in der Nacht des Grauens in einer Zelle 10 und in der anderen 7 Kinder eingepfercht.
Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was geschehen sollte

Den Nachmittag über hatte einer der Jungen, der 16 jährige Diego verzweifelt verlangt seine Eltern besuchen zu dürfen: Er hatte von diesen einen Brief bekommen in dem stand, sein kleiner Bruder sei schwer krank. Unverständlicherweise hatte irgendjemand innerhalb der Polizeistation den Text –vor seiner Übergabe an Diego- dahingehend verändert, dass nun zu lesen war, sein kleiner Bruder sei gestorben.
Diego, der in der 10-Zelle inhaftiert war, begann sich wie wild zu gebärden, so dass er mehrmals von den wachhabenden Polizisten mit dem Gummistock geschlagen wurde. Schließlich entstand ein allgemeiner Aufruhr und die Polizisten kamen in die Zelle und schlugen erbarmungslos auf alle 10 Jungen ein, die weiterhin laut um Hilfe riefen in der Hoffnung, durch das einzige Fenster, das zur Strasse führt, von Menschen gehört zu werden. Der Aufruhr entflammte auch in der anderen Zelle, so dass auch die anderen 7 Jugendlichen rücksichtslos von der Polize geschlagen wurde.
Als alles nichts half, zündeten die Jungens ein Teil eines Schaumgummikissens an, in der Hoffnung, die Fußgänger würden den entstandenen Rauch sehen und die Polizei würde die Zelle öffnen müssen.

Was hingegen geschah ist unvorstellbar: Allen Anzeichen und Untersuchungen nach schüttete jemand von außerhalb Benzin oder Kerosin unter die Blechtüre der 10.Zeller, so dass sich das Feuer in dem Raum, in dem 10 Menschen zusammengepfercht waren, explosionsartig ausbreitete. 4 der Jungen starben in den nächsten Stunden, nachdem sie noch einmal –trotz schwerster Brandwunden- zusammengeknüppelt wurden. Manche von ihnen wurden stundenlang in Streifenwagen herumgefahren, bis sie –alle 10 weit zerstreut voneinander, damit ihre Angehörigen sich nicht treffen und gemeinsam etwas unternehmen konnten- in Hospitäler eingewiesen wurden.


Ich hab Diego und seine Familie gut gekannt, so dass die Mutter mich bat die Trauerfeier und Beerdigung zu leiten. Ich hab´deshalb Diego aus nächster Nähe lange gesehen: Sein Sarg wurde wieder –wie der von Carlitos- mitten in einem Gang des Elendsviertels „Villa Itatí“ aufgebahrt, da auch die Hütte der Familie Maldonado viel zu klein für einen Sarg plus Trauergemeinde war. Ich kann bezeugen, dass die Kinder nicht vom Rauch des Schaumstoffkissens erstickt sondern verbrannt sind. Diegos Gesicht und Hände waren noch im Tod leuchtend rot, ohne jegliche Hautreste, denn die waren alle verbrannt; Diego hatte auch nicht den geringsten Russfleck an den Händen oder im Gesicht: Die –um Jahre verspätete Untersuchung- stellte fest, dass alle 4 Jungen den inneren Brandwunden der Atemwege erlegen sind und keiner Rauchvergiftung, wie es die ersten Befunde der eigenen Polizei bekannt gegeben haben.
Nach 5 Jahren warten die Angehörigen immer noch auf die Gerechtigkeit der Menschen: Bisher wurde kein einziger Polizist wegen dieser 4 Morde verurteilt.

Ich werde nie die letzte Szene vergessen, die ich an Diegos Grab erlebt habe.
Als alle Menschen gegangen waren, blieb ich auf einige Entfernung stehen und schaute zurück.
Da sah ich, dass Diegos Schwester vor dem Grab kniete. Ich ging zu ihr zurück um sie zu umarmen, als ich bemerkte, dass sie eine kleine Zigarette, aus Zeitungspapier und Hasch gedreht, entzündete und in die Erde des frischen Grabhügels steckte. Sie sagte: „Vielleicht hilft es ihm, ein wenig Ruhe zu finden“.

Was wir von der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung meinen:

Schon vor vielen Jahren, im April 1988 haben wir folgendes bekannt gegeben:
“Wir vom MEDH sehen mit größter Sorge den Vormarsch von Kriterien einer angeblichen „Sicherheit“, die weder die sozialen Interessen verteidigen und noch viel weniger die Nöte der Minderjährigen, sondern die einzig und beharrlich das Weiterbestehen einer repressiven Mentalität beweisen, die zur Genüge bewiesen hat, dass sie absolut schädlich für alle Menschen ist, nur nicht für diejenigen, die sie ausüben und sich dadurch bereichern. Man muss deshalb das gesamte Sozial- und Rechtssystem, insofern es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, von Grund auf verändern. Wir werden nie dadurch eine größere „Sicherheit“ erreichen, dass wir eine noch stärkere und ausgeweitete Repression der Kinder errichten, mit stärkeren Gittern und größeren Vorhängeschlössern: ¿Wie sollten wir auch unsere armen Jugendlichen davor schützen, gegen das Gesetz zu handeln, während die Folterer und Mörder der Diktatur frei und straflos unter uns umherstolzieren? Wir sehen mit Entsetzen, dass es viele Richter gibt, die unsere Kinder dem „Gewahrsam“ jener professioneller kriminellen Schergen der Diktatur übergeben wollen, die weiter ihr Unwesen treiben“.

Arturo Blatezky
Mai 2009

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